Ich behaupte: Jeder von uns hat die eine oder andere Leiche im Keller. In meinem Fall: Ich war eine Zeitlang recht aktiv in einer Web 2.0 Community, genauer gesagt: auf YouTube, aber kaum jemand aus meinem realen Umfeld wusste davon. So wünschen es sich viele Web 2.0er – aber warum eigentlich?
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Fangen wir vorne an: Wie kommt man überhaupt dazu, sich im Web 2.0 einbringen zu wollen? Nun, vermutlich legt man irgendwann ein YouTube-Konto an, um einen Kommentar unter einem angeschauten Video hinterlassen zu können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat YouTube den Status des bloßen „Funniest Home Video“-Spaßlieferanten verlassen – vielmehr hat man ein interessantes Video mit „echtem Inhalt“ gesehen, dessen Autor man eine persönliche Rückmeldung hinterlassen möchte.
Und wenig später grinst einen die im Laptop-Deckel integrierte Webcam verlockend an – der Reiz des Möglichen ist geweckt: Wie wäre es, einen Kommentar nicht in Text-, sondern ebenfalls in Videoform zu platzieren? Denn: Wenn so viele andere die Trivialitäten oder Ärgernisse ihres Alltags vor laufender Kamera in Worte fassen können, dann kann es doch nicht so schwer sein, das auch zu machen.
Der Vorgang gleicht einer Mutprobe, die man vor sich selbst zu bestehen sucht. Nachdem die technischen Schwierigkeiten gemeistert sind, hat man unversehens sein erstes Video gepostet – ein Videolog, kurz „Vlog“. Sagenhaft: 35 Views – 10 davon vermutlich eigene ungläubige „Hey, ich bin im Internet!“-Testaufrufe.
Ende der Geschichte – oder nicht? Nein, ganz im Gegenteil.
Denn: Wer waren eigentlich die anderen 25 Leute, die das Video gesehen und teilweise sogar kommentiert haben? Also folgt man interessiert den Textkommentaren zu deren Autoren und wiederum zu deren Videos – und schon beginnt die dem Web 2.0 innewohnende, unvermeidliche Clübchenbildung: Man diskutiert miteinander, schickt sich wechselweise weitere Videoantworten – und ein Augenzwinkern später ist man mittendrin in einem vollkommen neuen, virtuellen Freundeskreis von Leuten, die öffentlich über das Internet mit kurzen Videoclips miteinander kommunizieren.
Nun aber Ende der Geschichte – oder? Keinesfalls.
Irgendwann wird es unausweichlich, sich seiner Lebenspartnerin anzuvertrauen. Denn es wäre für beide Beteiligten sicher ein mehr oder minder traumatisches Erlebnis, wenn sie ihn unverhofft beim Videodreh ertappen würde. Allerdings offenbart sich hier die noch größere Mutprobe: Was wird die bessere Hälfte wohl sagen, wenn man ihr offenbart, dass man auf YouTube einen Haufen neue virtuelle Freunde gefunden hat, und dass man darüber hinaus noch sein eigenes Gesicht in Bild und Ton eben dort veröffentlicht? Glück gehabt: Zweifelndes Erstaunen weicht weitgehender Gleichgültigkeit – mit tolerierbarem Anteil von Sorge um die Privatsphäre.
In dieser Phase führt das Web 2.0-Mitglied bereits ein Doppelleben. Die Beichte der Gattin gegenüber war bereits ein schwieriges Coming-Out. Aber der Rest der Bekannten und Verwandten weiß noch rein gar nichts davon – und schon gar nicht der Arbeitgeber und die lieben Kollegen. Sicherlich, man macht ja nun wirklich nichts Verbotenes, aber trotzdem … Was dächten all diese Leute wohl, wenn sie wüssten, dass das neue Hobby damit zu tun hat, locker-flockig Meinungen zu beliebigen Themen vermeintlich anonym im Internet zu veröffentlichen?
„Anonym“ ist hier das entscheidende Stichwort: Man wähnt sich in Anonymität. Aber im Vergleich zu einem schlichten Textblog wie diesem birgt die televisuelle Ansprache mit Gestik, Mimik, Versprechern, Kunstpausen usw. eine vollkommen andere Medienpräsenz. Selbst hart gesottenen „Look at me!“-Zeitgenossen wird es evtl. ein bisschen flau im Magen angesichts der Vorstellung, unvermittelt „gespotted“ zu werden – sprich: von einem Bekannten des realen Lebens begrüßt zu werden mit den Worten: „Hey, ich habe Dein Video auf YouTube gesehen!“
Und so verstrickt man sich immer tiefer in seine selbsterwählte Schizophrenie: Auf der einen Seite die realen Bekannten und Verwandten, auf der anderen Seite das ständig wachsende Web 2.0-Umfeld. Die virtuelle Existenz dreht sich um immer größere Zahlen von Subscribern, Views und Friends – man dürstet nach immer mehr Web 2.0-Öffentlichkeit. Doch zugleich will man seinem realen Leben gegenüber die Anonymität wahren. Klarer gesagt verfährt man nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“ Demzufolge wächst tagtäglich das Risiko, dass die beiden Realitäten sich im unpassendsten aller Momente zu nahe kommen könnten – mit völlig unvorhersehbaren Konsequenzen.
Die Lage ist verfahren. Entweder, man starrt weiter paralysiert wie das Kaninchen auf die Schlange – sprich: man wartet so lange, bis es irgendwann zur Katastrophe kommt. Oder, man beugt einem derart unfreiwilligen Outing durch ein eigenes umfassendes, öffentliches Coming Out vor. Aber will man wirklich, dass anschließend wer-weiß-wer in all den alten Veröffentlichungen stöbert und dabei völlig aus dem Zusammenhang gerissen eine jener vielleicht nicht ganz makellosen Videobotschaften zu Tage fördert, die man vor Jahr und Tag aus der Illusion der Anonymität heraus allzu jovial ins Netz gestellt hat?
Ich bin einen anderen Weg beschritten: Einen Reboot, wenn man so will. Ich habe mehr oder minder „von jetzt auf gleich“ alle meine Web 2.0-Aktivitäten auf null reduziert. Mit etwas zeitlichem Abstand habe ich dann meine frühere, anonyme virtuelle Existenz zu Grabe getragen: Alle alten Beiträge von YouTube und anderen Portalen wurden nach Kräften entfernt, die damaligen Accounts wurden gelöscht. Anschließend habe ich gewartet, bis der Staub sich gesetzt hatte: Ich habe dem Web 2.0 hinreichend Zeit eingeräumt, mich bzw. mein früheres Alter Ego zu vergessen.
Nun beginnt mein neues virtuelles Leben – eines, das sich nicht mehr anonym vor dem realen Leben zu verstecken versucht. Auf Facebook beispielsweise stehe ich mit Reallife-Bekannten, Arbeitskollegen und einigen früheren Web 2.0-Buddies einhellig in Verbindung – die befürchtete Materie/Antimaterie-Explosion ist bislang ausgeblieben. Meine Web 2.0-Aktivitäten auf YouTube & Co. werden ab sofort nicht mehr pseudo-anonym stattfinden, sondern sie werden für jeden offen gelegt, der es wissen will – insbesondere auch für Reallife-Bekannten.
Jedoch merke: Ein Medium, das einem immer größeren Personenkreis die Möglichkeit gibt, Inhalte zu veröffentlichen, führt erfahrungsgemäß nicht dazu, dass sich tatsächlich auch jemand für diese Inhalte interessiert. Ihr könnt Euch gewiss sein: Ich halte die Trivialitäten oder Ärgernisse meines Alltags, die ich in Blogs oder Vlogs zum Besten gebe, weder für pulitzer- noch für webby-award-verdächtig.
Trotzdem werden alle meine neuen Web 2.0-Beiträge ab sofort an der inoffiziellen Messlatte gemessen, die eigentlich jeder beachten sollte, der etwas von sich ins Netz zu stellen gedenkt: „Veröffentliche nichts, von dem Du es nicht ertragen könntest, es unverhofft überlebensgroß auf einer Plakatwand an auf einem belebtem Ort zu sehen.“
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